Respekt ermöglicht es Brücken zu bauen

Verena Tobler Linder

Verena Tobler Linder hat sich ihr ganzes Leben lang mit den Strukturen und der Dynamik in Gesellschaften beschäftigt. Im Vorfeld des Podiumsgesprächs zum Thema «Klimawandel und Migration» vom 19. August 2022 im Skulpturenpark Steinmaur führte Standort Zürcher Unterland (StaZU) ein Interview mit der Kulturvermittlerin.

 

 

StaZU: Frau Tobler Linder, Sie waren als junge Frau als Lehrerin tätig. Dann haben Sie an der Universität Zürich ein Studium in Soziologie, Ethnologie und Pädagogik abgeschlossen. Wie kam es zu diesem Studienwunsch?

Ich bin in Winterthur in prekären Verhältnissen aufgewachsen. Eine Berufsberaterin sorgte dafür, dass ich die Kantonsschule besuchen konnte. So ergriff ich zuerst den Lehrerinnenberuf und hoffte, «meine» Kinder genauso weiterzubringen. Dann erkannte ich, dass nicht nur unterschiedliche Begabungen, sondern auch soziale Strukturen das oft nicht zulassen. Dem wollte ich mit einem Studium auf den Grund gehen.

Nach Ihrem Studium waren Sie in vielen armen Staaten praktisch tätig – in der Flüchtlingshilfe und in Entwicklungsprogrammen, etwa für das SRK, das UNHCR und die DEZA oder Sie waren für die Katastrophenhilfe im Einsatz. Was war der Auslöser für dieses Engagement?

Ich realisierte, dass man an der Uni Bücher studiert und viel über die Strukturen und die Dynamik der Gesellschaft lernt, aber damit ist noch nichts verändert. Aber mein Wunsch zu entdecken, wie die Welt und ihre Menschen wirklich funktionieren, blieb. Ich wollte hinaus, an die Ränder der Weltwirtschaft, um zu sehen und zu erleben, was dort passiert – auch, was mit unseren Hilfsangeboten passiert.

Sie haben sicher sehr viel Trauriges und Bedrückendes erlebt …

Ja, das stimmt. Aber man lernt Menschen nie besser kennen als in der Not. Es gibt Menschen, die schwierige Situationen mit grosser Würde angehen und Solidarität leben. Und es gibt auch das Gegenteil. – Ich lernte, mit beidem umzugehen.

Was hat Sie bewogen, sich trotzdem immer wieder zu engagieren?

Es war ein langer fortlaufender Lernprozess mit vielen Chancen. Ich habe als Schweizerin, als Europäerin gelernt, dass wir mit unserer grenzenlosen Weltwirtschaft und mit dem überlegenen energetisch-technologischen Machtapparat, auf dem unser Reichtum basiert, diese Ungleichgewichte erzeugen und sie deshalb auch zu verantworten haben. 

Welche Schlussfolgerungen haben Sie für sich aus Ihrem Erlebten, aus dem, was Sie gesehen haben, gezogen?

Vieles ist sehr komplex, es gibt enorm viele Abhängigkeiten. Darum müssen wir eine Art «Komplexitäts-Intelligenz» entwickeln. Es braucht vernetztes Denken, das über die einzelnen Disziplinen hinausgeht. Es gilt, eine Vielzahl von Faktoren zu sehen und zu beurteilen. Wo besteht ein Gleichklang? Wo gibt es Widersprüche? Auf dieser Basis gilt es, nota bene gemeinsam, gute Lösungen zu finden.

Bei meiner Recherche habe ich einen Beitrag gefunden, in dem Sie für das Verstehen anderer Kulturen eintreten. Können Sie das näher erklären?

Auch wenn wir das nicht beabsichtigen, sind wir westlich geprägten Menschen oft arrogant. Menschen an den weltwirtschaftlichen Rändern haben – mit guten Gründen – andere Wertvorstellungen, andere Rechtsnormen. 

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Wir haben mit der AHV und den Pensionskassen unsere sozialen Netze. Weltweit vermögen nur reiche Länder ihre Bewohnerschaft monetär abzusichern. Arme Länder haben andere Solidarinstitutionen. Wir sollten dafür Respekt aufbringen und lernen, diese Menschen und ihre Ordnungsvorstellungen zu verstehen. – Alles zu verstehen, heisst nicht, alles zu akzeptieren. Es ist jedoch die Voraussetzung für Verständigung und Veränderung. Respekt ermöglicht es, Brücken zu bauen.

Für viele Menschen in der Schweiz ist in den letzten Monaten der Krieg aus weiter Ferne in die Nähe gerückt. Hat sich Ihr Weltbild verändert? Und wenn ja: wie?

Nein, es hat sich nicht verändert. Bei meinen Tätigkeiten in Pakistan etwa oder in Bangladesch war Krieg sehr nahe. – Doch in den letzten Monaten, nein seit Covid, zeigt sich, dass wir schlecht mit Widersprüchen umgehen können und wie rasch sich Lagerdenken verbreitet.

Oft erleben wir widersprüchliche, ambivalente Gefühle. Wie gehen Sie damit um? Was gibt Ihnen einen Kompass?

Ich bin in sehr bescheidenen, ja armen Verhältnissen aufgewachsen. Zwischen meinen Eltern gab es oft Gewalt. Weil ich aber beide Eltern gernhatte, habe ich seit meiner Kindheit gelernt, Licht und Schatten gewissermassen gleichzeitig zu sehen und auch zusammen zu denken. 

Sie haben also bereits in Ihrer Kindheit gelernt, mit Ambivalenz umzugehen?

Genau. Sie ist der Schlüssel zum Realen. Und um Lösungen zu finden, gilt es, Widersprüche zu erkennen, sie zu benennen und zu lernen, damit klug umzugehen.

Worin sehen Sie bei der Migration die grössten Herausforderungen?

Die derzeitige Migration verstärkt auf struktureller Ebene das wirtschaftliche Unvermögen in armen Staaten und den Überkonsum in den wohlhabenden Ländern. Aber auf der individuellen Ebene leben Migrierende bei uns effektiv besser. Sie sorgen zudem mit ihren Geldüberweisungen dafür, dass es auch ihren Familien im Herkunftsland besser geht. Auch das ist ambivalent: Denn auf der Basis von familialer Solidarität können im armen Teil der Welt keine überfamilialen bzw. staatlich organisierten Solidarinstitutionen entstehen. 

Zudem sind es oft die Begabten, die gehen. Das führt in armen Ländern zu einem «Brain drain» und zu einem «Brain Gain» für die Schweiz. Auch Demokratie und Mitbestimmung machen so keine Fortschritte. Ohne dass die wohlhabenden Länder bereit sind, einige ihrer Wirtschaftsregeln zu ändern, wird die Einwegmigration von Süd nach Nord weiter zunehmen. Auf diese Zusammenhänge möchte ich anlässlich des Podiums am 19. August im Skulpturenpark Steinmaur eingehen.

Besten Dank für das Interview. Wir sind gespannt auf das Podium!


Zur Person von Verena Tobler Linder
aufgewachsen: in Winterthur
Wohnort: Zürich und Bern
Beruf: Mediatorin und Integrationsspezialistin
Freizeit: Beschaffen von Information von den Rändern der Welt; verstehen, was passiert; aktiv sein und meine Erfahrungen teilen

Detailangaben zum Podiumsgespräch